Matthias Ruthenberg ist Zeichner. Mit dem Rückhalt dieser Kategorie künstlerischer Techniken findet er einen sensiblen Zugriff auf das Material der Welt. Seine künstlerische Praxis besteht darin, Nebensächlichkeiten zu finden, sie subtil umzudeuten, ironisch zu öffnen, sie aus ihren Registern zu befreien und verhandelbar zu machen.
schreiben zeichnen
Ein wichtiges Verfahren dabei ist das Schreiben. Er nutzt die Möglichkeiten von Sprache – die Zweideutigkeit von Begriffen, die Stärke von semantischen Konstruktionen oder die Assoziationsmöglichkeiten von Satzfetzen. Und zugleich die ästhetischen Eigenschaften von Schrift. Schrift ist räumliche Konfiguration. Schrift breitet sich in zwei Dimensionen über ein Trägermaterial aus. Nur durch ihre Leerstellen ist sie lesbar. Im Gegensatz zu verbaler Sprache definiert sich geschriebene Sprache durch grafische Eigenschaften. Eigenschaften, die nur visuell wahrgenommen werden können und hierbei wichtig sind, um das Geschriebene zu verstehen. Schrift ist gleichzeitig Bild. Ruthenbergs Schrift ist kritzelig. Sie ist fragil, lässt Fehler zu und scheint dadurch beiläufig. Seine gegenständlichen oder gegenstandslosen Zeichnungen teilen diese formale Eigenschaft, Kritzeleien oder Überlegungen zu einer Sache, die noch nicht ausformuliert ist.
Mit dieser Ästhetik wird ein Aspekt der Zeichnung besonders nachvollziehbar. Zeichnen ist aufbewahren. Durch die Zeichnung bekommt der Gegenstand, auf den sich die Zeichnung bezieht, Stabilität und ebenso Beweglichkeit. Stabilität, weil er festgehalten wird, aus etwas Ephemeren wird „Schwarz auf weiß“. Beweglich, weil er mit der Zeichnung verhandelbar wird. (ORDNER: Für die Reihe „ordner“ bezeichnet Matthias Ruthenberg die fragile, stark saugende Zellstoffoberfläche von Taschentüchern mit Filzstiften. Farbkompositionelle Vorlage sind dafür die farbigen Rechtecke aus unvollständig geladenen Google-Bildersuchen. Gegoogelt werden Sachverhalte, deren inhaltlicher Zusammenhang unsinnig scheint, wichtig ist vielmehr ihr poetischer Wert. Der Titel der jeweiligen Arbeit entspricht der vorherigen Suchanfrage. Auch wenn der Zusammenhang intellektuell nicht nachvollziehbar ist,
er erschließt sich ästhetisch systemisch. Abgeschlossen ist der Prozess eines jeden Werkes der Serie „ordner“ mit dem Anlegen einer Akte, das Taschentuch wird in einem Ordner abgelegt, beschriftet mit einem Verweis auf den Inhalt – der Suchanfrage – und dem Datum.)
ablegen prozess
Ein verstaubter Raum irgendwo in einem städtischen Gebäude, vollgestopft mit Ordnern, unsortiert und wellig an den Rändern, so wäre eine Altablage vorstellbar. Der Ort, an den Akten verbannt werden, deren Inhalt abgeschlossen, verjährt oder für das Tagesgeschäft unwichtig geworden ist. Die Altablage ist Zeugnis von dem systemischen Bedarf, Prozesse, die eine bestimmte Sache betreffen, aufzunehmen und abzulegen. Prozesse sind ephemer. Alles was vergänglich ist, wird vergessen, hat es nichts, was daran erinnert. Das hingegen, was abgelegt ist, ist wichtig und beständig. Zudem kann darauf zugegriffen und es kann verhandelt werden. Ablegen ist Teil einer Machtstruktur. Gleichzeitig ist es eine illusorische Annahme, dass Prozesse einmal aufgenommen, vollständig erinnerbar bleiben. Die Methoden der Aufnahme sind defizitär. Die Verwaltung ist eine zermürbende Institution, sie arbeitet gegen Unvollständigkeit und materielle Defizite. Nicht zum ersten Mal steckt hinter einem Werk von Matthias Ruthenberg eine Aufgabe, die in ihrer körperlichen Ausführung sowie konzeptionell monoton und aufreibend ist. (ORDNER: Mit der Werkgruppe „ordner“ arbeitet sich Matthias Ruthenberg nach eigenen Regeln aus einer kritischen, einschränkenden Situation heraus – schlechtes Internet,
kein Geld für besseres Internet, Rückenschmerzen durch Wartezeit – und erkennt das defizitäre Element „Internet“ nicht als Urheber eigenen Unglücks an. Er unterwandert die Situation durch Überhöhung. Mit dem Konzept, welches mit seinen umfangreichen Handlungsabläufen der Werkgruppe zugrunde liegt, unterläuft er selbst die Vorstellung der beiläufigen Kritzelei, die bei seinen Zeichnungen vermutet werden kann. Gleichzeitig gibt er ihrem Gegenstand eine absurde Stabilität.) Ruthenberg nutzt die Ironie als Werkzeug für eine Revision von vorhandenen Machtstrukturen.
material
Die Methoden der Aufnahme sind defizitär, nicht zuletzt weil ein abgelegter Prozess von seinem Material abhängig ist. Das Papier vergilbt, der Klebstoff wird brüchig, die Klammernadeln rosten und der Stift verblasst. Die Akte ist ein fälsch- licher Versuch, etwas festzuhalten, was dem Vergehen nicht entzogen werden kann. Noch absurder erscheint so das fast manische Verhalten des Aufnehmens und Ablegens.
Auch wenn Zeichnen aufbewahren ist, ist jede Zeichnung von Ihrem Material anhängig. Das Taschentuch ist leicht zu transportieren, es ist fragil, es reißt schnell, es ist vergänglich. Der Filzstift ist transportabel und verfügbar, er hat eine geringe Qualität, trocknet schnell aus und seine Farben verblassen. Die Materialien von Matthias Ruthenberg sind physisch vorhanden und physischen Kräften ausgesetzt. (MASTERCARD UND ORDNER: In den Reihen „mastercard“ und „ordner“ verwendet Ruthenberg das Material Taschentuch und Filzstift. Jeder hat eins in der Tasche, doch isoliert betrachtet ist das Taschentuch Sinnbild für Trost, steht für Krankheit, Leid oder Trauer. Gerade mit der Verwendung eines solch alltäglichen, vermeintlich nebensächlichen und doch inhaltsschweren Materials kommt es in Matthias Ruthenbergs Werken zu einer Umkehrung vermeintlich unwichtiger Materialien unserer Welt in Kunstwerke, denen per se andere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Taschentuch flimmert zwischen Alltagsmüll und künstlerischer Aufwertung. Die inhaltliche Schwere der Tücher wird weiter durch die Zeichnung mit billigen Filzstiften in die Schwebe gebracht. Filzstifte liegen halb ausgetrocknet auf dem Maltisch und sind dennoch Inbegriff für kindliche Fantasie und Leichtigkeit. Sie sind Sinnbild kindlichen Direktzugriffs auf das Material, auf das Festhalten, Teilen und Verstehen der eigenen Weltwahrnehmung.)